(aktualisiert am 9.06.22)
von Christoph Roemer
Zum Chanten gehört eine Mitte. Wie bitte? Was hat die Mitte mit Chanten zu tun? In Wikipedia heißt es „Mitte steht für Mittelpunkt in der Geometrie“ und „in der Politik einen Standpunkt im politischen Spektrum“. Das führt in Bezug auf das Chanten nicht wirklich weiter. Fragen wir einen erfahrenen Singleiter: Christoph Roemer ist in vielen Singgruppen vielen Mitten begegnet und hat schon einiges an Mitte-Erfahrungen gesammelt.
Woran erkenne ich eine Mitte?
Beim Chanten ist die Mitte ein oft sehr liebevoll gestaltetes Arrangement, bestehend aus Tüchern, Blumen, Kerzen und sonstigen Gegenständen, das gleich mal darauf hinweist: hier findet etwas Besonderes statt! Es gibt keine Vorgaben, wie eine Mitte auszusehen hat. Eine Mitte kann aus einer Vielzahl der unterschiedlichsten Gegenstände bestehen. Eine Mitte kann aber auch nur eine einzelne Kerze enthalten.
Was sagt mir die Mitte
Durch die Mitte wird sofort klar: hier findet kein Chor statt, sondern eine Singgruppe, die chantet. In einer Chorprobe sitzen oder stehen die Teilnehmer in einem Block und schauen alle in eine Richtung: nach vorne. Und da sind in der Regel zu sehen: die Chorleiterin, die Noten, die man in Händen hält und für mich, der ich Bass singend ganz hinten stehe, die Rücken vieler vor mir stehender Sängerinnen.
Das Vorhandensein einer Mitte weist unmissverständlich darauf hin, dass wir nicht in einem Block mit Blick nach vorne stehen, sondern uns um die Mitte herum gruppieren sollten, was dann immer einen Kreis ergibt. Dadurch können wir mit allen Teilnehmern in Blickkontakt treten und uns im Singkreis miteinander verbunden fühlen. Die Mitte macht deutlich: Dies ist keine Veranstaltung für den Kopf, etwa ein wissenschaftlicher Vortrag, sondern eher eine Veranstaltung für das Herz, fürs Gefühl, für unsere Spiritualität.
Farben können in einer Mitte sehr aussagekräftig sein. So kann man z. B. mit bestimmten Farben eines Mitte-Tuchs die Singgruppe darauf aufmerksam machen, in welcher Jahreszeit wir uns gerade befinden. Ist das Tuch z. B. hellgrün, spüren alle Teilnehmer das Herannahen des Frühlings. Sehen wir vor uns ein rotes Tuch mit vielen weißen Steinchen, ahnen viele Teilnehmer, dass Weihnachten schon wieder vor der Tür steht; es schön wäre, wenn es Schnee gäbe und dass der Stress wesentlich geringer wäre, wenn schon alle Weihnachtsgeschenke besorgt wären!
Wie sollte eine Mitte gestaltet sein?
Der kreativen Gestaltung einer Mitte sind eigentlich keine Grenzen gesetzt. In ihr können die persönlichen Vorlieben der Mitte-Gestalterin erkennbar werden. Sie kann Anspielungen zu Themen der Veranstaltung enthalten oder einfach in ihrer ästhetischen Schönheit die Herzen erfreuen. Blumen sind fast immer gern gesehen, aber auch Blätter, Gräser, kleine Zweige und Ähnliches. Etwas grenzwertig, aber nicht verboten sind stachelige Pflanzen wie z. B. Disteln oder Kakteen in der Mitte.
Gibt es die Mitte als Fertig-Produkt zu kaufen?
Die Mitte ist nicht als Fertig-Produkt im Supermarkt oder im Onlinehandel zu kaufen. Die Mitte wird immer vor Beginn der Veranstaltung in Handarbeit „gerichtet“ – in der Regel auf dem Boden – und nach der Veranstaltung wieder „abgebaut“. Manche Singkreisleiterinnen wollen das am liebsten ganz alleine machen. Manche lassen sich gern von hilfsbereiten Teilnehmern dabei helfen.
Schwierigkeiten beim Gestalten der Mitte
Es gibt geübte und talentierte Mitte-Gestalterinnen, und es gibt andere. Mit zum Kompliziertesten gehört das kunstvolle Drapieren eines Tuches, das in der Regel viereckig ist, zu einem kreisförmigen Gebilde. Die erwähnten ‚anderen‘, zu denen auch ich gehöre, tun sich damit sehr schwer. Das sieht man der Mitte dann auch meistens an.
Zu fast jeder Mitte gehört mindestens eine Kerze. Oft sind es auch mehrere Kerzen oder kleine Teelichter. Besonders Mitte-Gestalter ohne Haftpflichtversicherung sollten darauf achten, dass die Kerzen oder Teelichter nicht in einer unstabilen Schräglage auf einer Falte des kunstvoll drapierten Tuches oder direkt unter einem leicht entflammbaren Mitte-Zubehör platziert werden.
Hat eine Mitte auch Nachteile?
Die Mitte kann in seltenen Fällen auch Nachteile haben. Bei Tänzen um die Mitte herum muss man vor allem auf drei Dinge achten: zum einen, dass man nicht auf das Mitte-Tuch tritt, ausrutscht und stürzt. Es ist oft sehr mühsam, die Mitte danach wieder so schön herzurichten, wie sie davor ausgesehen hatte. Zum anderen sollte man aufpassen, dass man nicht versehentlich auf den kleinen Porzellan-Elefanten Ganesha tritt. Sollte die Mitte also eine der unzähligen hinduistischen Göttergestalten zieren, sind eher die Ausführungen in Massiv-Messing zu empfehlen. Zum dritten sollte man darauf achten, nicht an einer der brennenden Kerzen Feuer zu fangen. Der damit verbundene Kokelgeruch kann für manche Teilnehmer eher unangenehm sein.
Gibt es Singgruppen ohne Mitte?
Es ist wissenschaftlich noch nicht endgültig geklärt, was für eine Singgruppe von größerer Bedeutung ist: Teilnehmer*innen, die wohlklingend singen und sich dabei rhythmisch bewegen, oder eine Mitte, die einfach nur ruhig daliegt und in ihrem So-Sein wunderschön ist. Für mich ist die Antwort klar: So schön eine Mitte auch sein mag, man sollte es mit den Mitten nicht übertreiben! Ein Singkreis kann auch ohne eine Mitte ein herausragendes Ereignis sein.
Dagegen ist eine liebevoll gestaltete Mitte, die irgendwo ganz alleine liegt, beispielsweise in der Sahara, meilenweit entfernt von ihrer ureigenen Bestimmung! Es sei denn, sie könnte eine vorbeiziehende Gruppe von Kamelen dazu inspirieren, miteinander nach Art der Kamele zu singen. Nicht ihre wüsten Lieder, sondern die schönsten ihrer Wüstenlieder!
Es war einmal in der Sahara ’ne Mitte, die man noch nie da sah. Dies rührte tief in ihrer Seele, zwei musikalische Kamele, und so begannen sie zu chanten ein Wüstenlied, das beide kannten. Sie fühlten sich gar sehr verbunden, was sie einst trennte, war verschwunden. Drum auf die Frage „Sag mir bitte: gehört zum Chanten eine Mitte?“ Liegt meine Antwort nicht sehr fern: „Chanten mit Mitte? Ja, sehr gern!“
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Das war wirklich wieder eine ganz herausragend schöne Mitte, liebe Elena, da herneulich im Schlüsshof. Siehe Titelfoto des Artikels. Viele Grüsse